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Im Loop! Fiktion, Wahrheit und das erkenntnistheoretische Potenzial von Rätseln




Der schwarze Monolith ist zurück und nennt sich jetzt: Eklipse.



Eklipse, Loop und Möbiusband


Ja, ein paar Dinge sind anders. Das Artefakt ist nun rund, besteht aus vielen kleinen Einzelsteinen und statt in der Wüste zwischen Menschenaffen steht es im Forschungszentrum für experimentelle Physik in der fiktiven Kleinstadt Mercer, Ohio. Die Bedeutung der Eklipse in der Serie "Tales from the Loop" ist - etwas vereinfacht betrachtet - die gleiche wie die des Monolithen im Film "2001 A Space Odyssey"von Stanley Kubrick: eine Metapher auf unsere Existenz, unser Universum, Zeit und Raum, und alles, was wir nicht verstehen und worüber wir uns den Kopf zerbrechen.





Dass die Eklipse in der Virologie ein Fachbegriff "für das Stadium der Virusinfektion zwischen dem Zelleintritt und der Replikation ist" (Wikipedia) kann in diesem Zusammenhang wohl als amüsanter Zufall verstanden werden, auf den wir später noch zurückkommen. Geläufiger bezeichnet engl. "eclipse" eine Finsternis oder Verdunkelung, vorzugsweise der Sonne, des Mondes bzw. anderer Himmelskörper, und wurde in der Pop- und Konsumkultur für zahlreiche musikalische Titel (am bekanntesten wohl: "Total Eclipse of the Heart" von Bonnie Tyler), Softwareprogramme oder Markennamen verwendet.


In der Serie ist die Eklipse ein Teil des Loop, einer Schleife, die "die Entschlüsselung und Erforschung der Mysterien des Universum" zur Aufgabe hat, so sagt es der fiktive Wissenschaftler Russ Willard. Und man ahnt schon, dass hier überhaupt nichts entschlüsselt oder erforscht werden soll, sondern - ganz im Gegenteil - die Mystifizierung dieser Mysterien des Universum munter zelebriert werden darf.


Erste Anzeichen: Der oberste Wissenschaftler sieht aus wie ein Bibliothekar. Sein Arbeitszimmer gleicht dem des Heiligen Hieronymus aus Dürers berühmtem Gemälde. Und er spricht wie Obi-Wan Kenobi aus "Star Wars". Kein sauberer Arbeitskittel, keine physikalischen Fachbegriffe und Experimente, kein Teilchenbeschleuniger. Nur ein wenig mathematische Formel-Folklore.


Kurzum: Es handelt sich hier um eine scheinbare (Natur-)Wissenschaftlichkeit.


„Sie werden als Ergebnis dieser einzigartigen Forschung Dinge zu Gesicht bekommen, die sie nicht für möglich halten würden. Und doch existieren sie.“ - Russ Willard

Darüber hinaus weist schon das Konzept des Loop mehr auf Unendlichkeit und Irrationalität als Eindeutigkeit hin: Ein Loop kennt weder Anfang noch Ende. Eine spezielle Form des Loop ist dabei das (in der Filmanalyse immer wieder zitierte) Möbiusband, das dazu jedes Orientierung aufhebt und weder oben noch unten, weder rechts noch links, oder um logische Termini heranzuziehen, weder Prämisse noch Konklusion zulässt.


So sind einige Narrative der Filmgeschichte, z.B. David Lynchs "Lost Highway", mit der Struktur des Möbiusbands vergleichbar. In "Lost Highway" - Vorsicht Spoiler! - erhält der Protagonist Fred Madison (gespielt von Bill Pullman) am Anfang des Films über die Gegensprechanlage seines Hauses die Warnung "Dick Laurent is dead", die er am Ende des Films, nachdem er Dick Laurent getötet hat, selbst (an sich selbst) überbringt, was überhaupt erst die Ereignisse lostritt. Wir haben es in "Lost Highway" also mit einer unlösbaren Zeitschleife, einem sog. Möbiusband, zu tun!


Und solche Loops bzw. Möbiusbänder sind eben auch in "Tales from the Loop" (Namen sind kein Zufall!) allgegenwärtig: Da ist z.B. das kleine Mädchen, das nach seiner verschwundenen Mutter sucht - und sich selbst als Erwachsene mit Sohn (gut 30 Jahre älter) wiederfindet; oder ein Mann, der bei einer Reise in ein Paralleluniversum sich selbst und seinen Liebhaber kennenlernt.


Exkurs Anti-Science-Fiction

An einer logischen Erklärung dieser Phänomene ist die Serie aber nicht interessiert. Wie typische Science Fiction könnte sie Quantenphysik oder Relativitätstheorie heranziehen, um das Unerklärliche zumindest scheinbar zu erklären oder zumindest wissenschaftlich einzuordnen. Tut sie aber nicht! Stattdessen zeigt sie im Stile einer Anti-Science-Fiction: kaputte, ausrangierte Maschinen, die geheimnisvoll kreisende Eklipse und Menschen, die still an kargen Bäumen vorbei durch den Schnee stapfen. Alles sehr rätselhaft. 

Überhaupt kommt es der Serie mehr auf ihre ästhetischen, poetischen Bilder an als auf einen besonders ereignisreichen, aufklärerischen Plot. Das Erzähltempo ist extrem langsam, fast meditativ. Was mancher langweilig finden wird, macht „Tales of the Loop“ so erfreulich anders als die zahlreichen gleichförmigen, alles sein wollenden Neuerscheinungen in den Streaming-Portalen.


Retrofuturismus -> Dystopismus


Die rätselhafte Welt basiert dabei auf den retrofuturistischen Kunstwerken und dem gleichnamigen Bild-Erzählband des Schweden Simon Stålenhag. In seinen Gemälden und Illustrationen kombiniert er Kindheitserinnerungen von der weiten schwedischen Natur und dem ländlichen Leben mit dystopischen Zukunftsmotiven von verfallenen Robotern und mysteriösen Maschinen-Monumenten. Seine unheimlich-heimeligen Ansichten sind romantische Bildmediationen.



Sie stehen einerseits in der Tradition der Romantik, insofern sie das Erhabene (engl. "the sublime") der Natur und deren Rätselhaftigkeit feiern und eine gewisse Sehnsucht und Einsamkeit ausstrahlen, wobei natürlich auch ein Hang zum Mystizismus wesentlich ist. Andererseits kokettieren sie mit dem Fortschrittspessimismus dystopischer Zukunftsszenarien, wenn sie das Scheitern und Stillstehen von Technik und Digitalisierung andeuten, indem sie ruinenhafte Maschinen-Monumente und obsolete Roboter zeigen.


Dieses Nicht-Funktionieren gepaart mit Ehrfurcht, Staunen und Rätselhaftigkeit verrät natürlich auch einiges in Bezug auf unseren Umgang mit Technik: Wir wissen nicht, wie sie (genau) funktioniert, aber wir benutzen sie täglich (auch wenn wir das Staunen dabei meistens vergessen). Wer von uns könnte ein Handy bauen, die Zusammensetzung einer Mikrowelle erklären oder gar das städtische Stromnetz verkabeln? Wer versteht den Algorithmus unserer Google-Suchanfrage oder die Prozesse auf unserer Festplatte? Nur ein paar wenige Experten auf ihrem jeweiligen Teilgebiet.


Während wir diese alltäglichen Rätsel quasi unhinterfragt hinnehmen, irritieren uns die nicht aufgelösten Rätsel in fiktiven Stoffen zumeist. Wir sind gewohnt, dass Serien, Filme und Bücher uns eine (Auf-)Lösung anbieten, uns vielleicht sogar erlösen (vom Unwohlsein, das wir jeden Tag subtil verspüren, wenn wir die Tiefkühlerbsen aus der Gefriertruhe holen?).


Soll heißen: Die Welt ist unglaublich komplex und wir finden uns jeden Tag ganz selbstverständlich damit ab, dass wir fast alles, was wir benutzen und tun, kaum verstehen. In einer arbeitsteiligen Gesellschaft, in der immer mehr Aufgaben von Maschinen erfüllt werden, hat - kurz gesagt - niemand über nichts den Überblick. Vielmehr laufen wir Gefahr, uns durch die fortschreitende Maschinisierung und Digitalisierung sukzessive selbst abzuschaffen bzw. Menschen in Maschinen zu verwandeln. Fiktion bietet hier eine wichtige Reflektionsebene.



Die Lehren des Loop


"Tales from the Loop" kann somit als ein Statement für Verlangsamung (vielleicht sogar Stillstand), Reflexion und Diskussion bei der fortschreitenden Technisierung verstanden werden. Und als Plädoyer für ein ursprünglicheres, freiheitliches Menschsein unabhängig von Smartphone, Computer oder Alexa (solche Geräte tauchen in der Amazon-Serie ja gerade nicht auf). Auch eine Nähe zur Aussteigerliteratur (z.B. Thoreaus "Walden), die freilich nicht unproblematisch ist, ist dabei erkennbar.


Darüber hinaus konterkariert die Serie ein allzu ausgeprägte Vernunft- bzw. Wissenschaftsgläubigkeit. Sie ist per se wissenschaftsskeptisch (so wie sie technikskeptisch ist) und spricht dem Rätsel die zentrale Position innerhalb der Welt zu. Folgerichtig macht die Serie auch uns Menschen zu: Rätseln. Das verbindet "Tales from the Loop" auch mit den vorher erwähnten Filmklassikern "2001 A Space Odyssey" und "Lost Highway".


"This mission is too important for me to allow you to jeopardize it." - HAL 9000

Analog zu unserem Technikunverständnis ließe sich insofern auch argumentieren: Wir rezitieren und benutzen täglich Fakten bzw. wissenschaftliche Erkenntnise und können sie doch nicht überprüfen, geschweige denn als "wahr" validieren. Es soll hier - das möchte ich ganz explizit betonen - nicht einer völlig erratischen Wahrheitsumkehrung, wie sie im Sinne von Fake News und Trollnachrichten immer häufiger gezielt für opportunistische und niederträchtige Zwecke benutzt wird, Argumentationsstoff oder gar Rechtfertigungsraum gegeben werden.


Aber wir sollten erkenntnistheoretisch - im Sinne dieser Fiktionen - festhalten: Die Wahrheit gibt es nicht. Zumindest solange wir Menschen mit fehlerhaften Sensoren und Neuronen sind - und keine Maschinen. Auch die Naturwissenschaften kennen nur (mehrere) Wahrheiten bzw. eine Annäherung an Wahrheit, nicht eine Wahrheit. Auch die Naturwissenschaften haben sich mit den epistemologischen Unzulänglichkeiten der Sozialwissenschaften auseinanderzusetzen.



Gedanken zur Krise #Covid19


Daraus wiederum lässt sich zu guter Letzt ein wertvoller Gedanke für existenzielle Krisensituationen, wie die aktuelle Corona-Epidemie (oder auch das Klima etc.) ableiten: nämlich die Akzeptanz von Widersprüchen und Rätseln. Dazu eine notwendige Gelassen- und Bescheidenheit gepaart mit dem Willen zur Voraussicht und Kontemplation, der nicht die notwendigen Handlungen untergraben, sondern im Gegenteil vorantreiben kann.


Das könnte ganz konkret am Beispiel Corona heißen:


  1. Wir erkennen nicht nur Erkenntnisse und Ratschläge von Virologen, sondern ebenfalls von Soziologen, Politik- und Wirtschaftswissenschaftlern an. Sie sind mindestens genauso wichtig! Corona ist nicht nur eine medizinische Krise, sondern - vielleicht sogar noch viel mehr - eine gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Krise. Stichwort: Einschränkung von Grundrechten, Anstieg häuslicher Gewalt, Unterbezahlung systemrelevanter Berufe, Arbeitslosigkeit, Insolvenz und Folgen für Einzelhandel, Freiberufler und Kulturschaffende.

  2. Wenn jeder Einzelne in dieser Krise mit Bedacht und ohne Panik handelt, kommt es weder zu Hamsterkäufen noch zu Denunziationen und Gehässigkeiten, ob auf der Straße oder in sozialen Netzwerken. Stattdessen erzeugt die Krise eine Solidarität.

  3. Ambivalenzen und Ausnahmen sind a) freiheitlicher Demokratie wie b) existenzieller Krise eingeschrieben: z.B. zu a) Die AfD ist eine in Teilen anti-demokratische Partie, trotzdem sitzt sie im demokratischen Parlament; z.B. zu b) Alte Menschen sind die Hauptrisikogruppe, ein 33-jähriger Mann fällt dem Covid19-Virus zum Opfer. Dahinter stecken keine Scheinwahrheiten, Vertuschungen oder Lügen, sondern schlichtweg die Erkenntnis, dass Wahrheit immer vielfältig ist und Widersprüche zu unserem Leben gehören.

  4. Auch Wissenschaftler, Politiker und Mediziner sind Menschen - und keine Maschinen. Insofern machen sie Fehler, verschätzen, verrechnen und verkalkulieren sich. Sie wissen vieles nicht. Wir wissen vieles nicht. Das sollte uns aber nicht entmutigen, sondern den Blick und die Empathie füreinander schärfen. In einer Krisensituation ist Mitgefühl genauso gefragt wie Fachwissen.

  5. Die freie Meinungsäußerung gehört zu den wichtigsten Rechten unserer Verfassung. Wir dürfen und sollten unsere Meinung kundgeben, aber wir können sie auch manchmal zurückhalten, wenn wir das Gefühl haben, dass wir andere Menschen oder gemeinschaftliche Werte damit verletzen. Insbesondere die sozialen Medien tragen häufig zu einer Polemisierung und Überhitzung der Debatte bei. Manchmal hilft schweigen.

  6. Medien sollten in seriöser, verantwortungsvoller Weise berichten ohne zu personalisieren und skandalisieren, ebenfalls mit einem Feingespür und Toleranz für gegensätzliche Erkenntnisse und Meinungen mit Binnen- und Außenpluralität. Die Medienrezipienten gestehen Fehler zu und haben neben der Informationsfreiheit natürlich auch das Recht auf Rückzug und Eskapismus.

  7. Der Virus wird nicht einhundertprozentig kontrollierbar und eindämmbar sein, so wie kein Risiko einhundertprozentig kontrollierbar und eindämmbar ist. Auch in Zukunft werden Menschen - wie an Grippe, Krebs, Unfällen, von Palmen fallenden Kokosnüssen - an Covid19 sterben. Vielleicht ich, vielleicht du. Das Leben ist tödlich.


Dieser letzte Satz benennt vielleicht das größte und letzte gesellschaftliche Tabu, das uns die Krise ganz deutlich vor Augen führt. Jeder Tote ist unendlich bedauernswert, unendlich verschwendet, unendlich traurig. Und der Tod selbst? Ein großes Rätsel. (Aber wir werden ihn alle erfahren - natürlich thematisiert auch das die Serie "Tales from the Loop" fortwährend.) Wenn wir also anerkennen statt abzulenken, hinhören statt zu hysterisieren, können wir individuell vielleicht zu einem entspannteren und gesellschaftlich zu einem emphatischeren und solidarischeren Umgang mit diesem unseren größten und unheimlichsten Rätsel gelangen.


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