Stuhl mit Fett, Fettbriefe, Fettkisten, Mit Fett gefüllte Skulptur, Fettbild / Fettklotz, Fettecke: Joseph Beuys hat zahlreiche Werke mit dem Material Fett geschaffen. Er schmiert es auf Papier, Stoff, auf Alltagsgegenstände oder direkt an die Museumswand.
Beispiel Fettfleck: Du nimmst den Daumen, gehst in eine Fettmasse rein und schmierst das auf einem Bettlacken ab. Fertig!
Warum das Ganze?
Am Anfang steht eine Legende: Im Frühjahr 1944 stürzt der junge Soldat Beuys, der sich im Zweiten Weltkrieg freiwillig zur Luftwaffe gemeldet hatte, mit seinem Kampfflugzeug über der Krim ab. Er wird verwundet - und, wie er später erzählt, von einheimischen Krimtataren, einem nomadischen Volk, gerettet. Sie reiben ihn mit Fett ein und wickeln ihn in Filz. Geboren ist der Mythos.
Heute weiß man: Die Tataren-Legende kann so nicht stimmen. Ein nomadisches Volk lebte zu dieser Zeit längst nicht mehr in primitiver Weise in dieser Region. Alles Folklore! Dokumentiert ist lediglich ein Krankenhausaufenthalt von Beuys nach dem Absturz. Auf die Frage, ob er denn die Wahrheit erzählt habe, sagte er einmal uneindeutig: Wahr sind die Ereignisse während des Krieges...
„Ich würde sagen, dass diese Erzählung eher ein Mythos über Beuys ist und über seine Verstrickung in den Nationalsozialismus oder seine Tätigkeit in der Wehrmacht. Aber für das Material selber ist die Geschichte nicht bedeutend, weil das Material ohnehin immer mit Krieg in Verbindung gewesen ist, gerade in Deutschland während der Eroberungsfeldzüge war Fett ein Grundnahrungsmittel, was jeder Landser hatte. Beuys setzt es so ein, dass es in Verbindung steht mit dem Zweiten Weltkrieg und seinen Erfahrungen dort. Und das ist das Entscheidende.“ - Dietmar Rübel, Professor für Kunstgeschichte an der Akademie der Bildenden Künste in München
Fett als Überlebensmittel, als Maßeinheit, als Währung einer Mangelgesellschaft in den Nachkriegsjahren: Individuell können wir das Material bei Beuys also als Therapie und persönliche Aufarbeitung der Kriegserfahrung interpretieren; im sozialen Kontext bekommt es eine Bedeutung als Erinnerungsstoff, fungiert als Mahnung oder vielleicht sogar Schuldzeugnis der deutschen Nazi-Gesellschaft. Das sind semantische Inhalte, die man dem Material zusprechen kann.
Fett ≠ Fett
Ganz vordergründig zeichnet sich das Fett für Beuys aber durch seine Flexibilität, seine plastische Formbarkeit und Wandelbarkeit aus. Bei Wärme zerfließt es, bei Kälte erstarrt es - Fett hat ein Eigenleben und ist zudem als einer der Grundnährstoffe (neben Eiweiß und Kohlenhydrate) ein wichtiger Energiespeicher für den Menschen. Dabei ist das Material wichtiger als die Form bzw. das Material definiert die Form. Beuys schafft damit Plastiken, die sich quasi selbst erschaffen.
„Im Unterschied zu vielen anderen plastischen Materialen ist Fett nicht spröde, sondern eher wie Wachs leicht formbar. Und das ist das, was ihn fasziniert, dass er den Stoff dauernd umformen kann und trotzdem speichert er diese Energie.“ -Dietmar Rübel, Professor für Kunstgeschichte
Beispiel Fettecke: Du deponierst irgendwo einen 5 Kilogramm schweren Butterklumpen und er fängt an, sich zu verändern: die Butter schmilzt, wird flüßig, braun und ranzig. Wie in der Mikrowelle!
Aus diesen vordergründigen Eigenschaften des Fetts kann man nun wieder lebensweltliche Analogien ableiten. Symbolisiert das Fett in seiner Wandelbarkeit das ewige Zusammenspiel von Chaos und Ordnung? Steht es für eine sinnhafte Fortentwicklung der Menschheit, frei nach Hegels Geschichtsdialektik? Oder ganz im Gegenteil für deren Dekadenz, sowie die Unkontrollierbarkeit und Unvorhersehbarkeit dynamischer Systeme, wie sie die moderne Mathematik und Physik errechnet haben?
Beuys selbst theoretisiert das in den 70er/80er Jahren in seinem erweiterten Kunstbegriff und der Rede von der sozialen Plastik. Was in seiner vielzitierten Formel mündet: Jeder Mensch ist ein Künstler.
"Das ist der Versuch die Kunst ins Menschliche zu wenden - und dann wird aus der Plastik eine soziale Plastik, deren Material Menschen sind und deren Formungsprozess darin besteht, diese in gesellschaftliche Positionen zu bringen. Diese sollen auch in einem Geschichtsprozess einer Verbesserung unterliegen. Die Avantgarde dieses Verbesserungsprozesses ist der Künstler, der dieses Potenzial auf alle Menschen zu übertragen versucht - und die Formel prägt: Jeder Mensch ist ein Künstler.“ - Günter Zöller, Professor für Philosophie an der LMU München
Das ist Kunst!
Die KünstlerIn selbst zeichnet sich in solchen Fett-Kunstwerken nun natürlich nicht mehr durch besondere Begabung, Kenntnis oder Fingerfertigkeit aus, denn einen Klumpen Butter in die Ecke schmieren kann ja jeder! Und genau das entfacht bei vielen Museumsbesuchern Irritation.
Beispiel Badewanne mit Fett: Dann machen wir halt eine kleine Museumsparty und spülen unsere Sektgläser in diesem alten Ding, muss eh mal sauber gemacht werden. *Schwips* Das macht dann 40.000 Euro. Danke Hilde!
Kunst kommt von Können, aber eben nicht nur. Es geht u.a. darum, die Erste zu sein, Ideen zu mystifizieren und Bedeutungen zu dekonstruieren. Kunst bedeutet Inszenieren, Ausstellen, Planen, Vermarkten, Abweichen, Verwirren, Anderssein, Querdenken, Entdecken, Erfinden, Weitermachen, Aufhören, Stillstehen, Schnellgehen, Mehrsehen...
In Folge dessen ist die KünstlerIn eben nicht nur eine KönnerIn, sondern eine KuratorIn, VerkäuferIn, AußenseiterIn, UnruhestifterIn, AvantgardistIn, HexerIn, BlenderIn, RebellIn... und als solche kann und sollte (!) sie eben auch einen Klumpen Fett zum Kunstwerk erklären.
Darin liegt übrigens auch eine (auto-)dekonstruktive Komponente: Indem die KünstlerIn Fett zu Kunst erklärt und damit Anerkennung findet, legt sie nicht nur die Mechanismen der Kunstwelt, sondern ganz allgemein die Mechanismen unseres gesellschaftlichen Definitionssystems offen bzw. sie zeigt, wie Bedeutung in unserer Lebenswelt funktioniert und konstruiert wird. Nämlich in einem Wechselspiel zwischen Behauptung und Zuschreibung. Dabei zeigt sich auch sehr schön, dass Kontext und Präsentation für den Inhalt essentiell sind. So wie natürlich der passende Expertenkreis, der den Diskurs - frei nach Michel Foucault - festigt und perpetuiert, so dass die Behauptung als objektive Wahrheit anerkannt wird.
Die KünstlerIn kann also nur Erfolg haben, wenn sie a.) von sich behauptet bzw. glaubt, dass sie Erfolg hat, und b.) ihr Erfolg zugeschrieben wird. Beide Voraussetzungen sind nötig, denn andernfalls hätten wir es mit einer HochstaplerIn (a ohne b) oder einem Irrtum (b ohne a) zu tun.
Die Chronologie des Fett-Kunstwerkes könnten wir also vereinfacht so beschreiben: 1. Die KünstlerIn behauptet ein Stück Butter (in einem bestimmten Kontext) sei Kunst, 2. sie unternimmt Maßnahmen, um diese Behauptung zu plausibilisieren, 3. ExpertInnen, KuratorInnen und Institutionen folgen ihrer Behauptung, 4. ein Symposium zur Bedeutung der Butter in der Kunst und den sozialhistorischen Implikationen findet statt, 5. das Stück Butter ist jetzt Kunst, 6. weitere Fett-Kunstwerke folgen und tragen zur Plausibilisierung der These (z.B. in Form eines Oeuvres bei, evtl. vorher bei 2. nötig), 7. in zukünftigen Kunstwerken wird das Stück Butter aufgegriffen, zitiert und weitergedacht, in Symposien und diesem Blog (!) diskutiert, in der Fachliteratur theoretisiert.

"Ich habe abschätzen können, als ich Fett gewählt habe, was passieren würde, ich habe also gewusst, dass eine Bewegung in Gang kommt, aufgrund von solchen ganz einfachen Stoffen. Ich wusste nicht genau, wie das im Einzelnen sein wird, aber ich wusste, dass eine Diskussion in Gang kommen wird.“ Joseph Beuys
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